Im Zuge der Corona-Pandemie ist die Schuldenlast bei vielen Unternehmen in Deutschland zuletzt stark gestiegen. Vor allem in der Hotellerie, der Gastronomie sowie im stationären Einzelhandel ist die Lage angespannt. Auf der anderen Seite gibt es auch Gewinner: der Online-Handel, der Lebensmitteleinzelhandel oder Essenlieferdienste haben trotz der Covid-19-bedingten Einschränkungen zugelegt. Das Statistische Bundesamt hat Mitte November mitgeteilt, dass die Zahl der Regelinsolvenzverfahren weiterhin deutlich unter dem Vorjahresniveau liegt. Dennoch fordert der Berufsverband der Insolvenzverwalter vereinfachte Verfahren, um Unternehmer, die unvorhersehbar in eine wirtschaftliche Notlage geraten sind, bei einer Neuausrichtung ihres Geschäftsbetriebes zu unterstützen. Um eine Insolvenzprognose für 2021 zu erhalten, hat Thorsten Klindworth, CEO der A.B.S. Global Factoring AG, bei Patrik-Ludwig Hantzsch, Leiter der Wirtschaftsforschung beim Verband der Vereine Creditreform, nachgefragt.
Thorsten Klindworth: Herr Hantzsch, die „Konjunkturampeln“ für den deutschen Mittelstand stehen aktuell auf „rot“. Zahlreiche ExpertInnen haben ab Oktober einen starken Zuwachs an Insolvenzen prognostiziert – die aktuellen Zahlen zeigen jedoch ein anderes Bild. In Ihrer letzten Erhebung sprechen Sie von einem Insolvenzvolumen von 16.000 – 17.000 Unternehmenspleiten in 2020 und einem Anstieg im kommenden Jahr auf bis zu 24.000 Fälle. Wie sieht die aktuelle Situation nun wirklich aus?
Patrik-Ludwig Hantzsch: Eine Einschätzung ist in der gegenwärtigen Situation nur schwer vorzunehmen. Aktuell haben wir eine paradoxe Situation: Die Zahl der Unternehmensinsolvenzen ist mitten in der größten Krise stark rückläufig, der Arbeitsmarkt weitgehend stabil und die Finanzierungssituation der Betriebe noch immer positiv. Die – in Anbetracht der historischen Rezession – scheinbar entspannte Situation ist jedoch die Folge fiskalpolitischer, geldpolitischer und regulatorischer Maßnahmen, die derzeit massiv auf die deutsche Volkswirtschaft einwirken. Wie viele Pleiten es im laufenden Jahr letztlich werden, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Werden etwa die staatlichen Unterstützungsmaßnahmen für Unternehmen nochmals ausgeweitet, wird sich auch das Insolvenzgeschehen weiter verschieben. Fest steht: Besonders betroffen sind kleine und mittlere Unternehmen, die derzeit „auf Sicht fahren“ und aufgrund der präventiven Maßnahmen gegen das Virus unmittelbar betroffen sind. Für das Gesamtjahr 2020 erwarten wir aufgrund der aktuellen Faktenlage eben keine Insolvenzwelle, die Hauptlast der aufgestauten Insolvenzen wird sich bei gleichbleibenden Bedingungen erst in den ersten beiden Quartalen 2021 Bahn brechen. Dabei sind nicht die Zahlen alleine entscheidend, sondern auch die Insolvenzqualität in Bezug auf Gläubiger- und Insolvenzschaden sowie Arbeitsplatzverluste. Außerdem müssen die „stillen Heimgänger“ in die Rechnung einbezogen werden, die das Wirtschaftsgeschehen durch Gewerbeabmeldung verlassen und nicht in die Insolvenzstatistik eingehen.
Thorsten Klindworth: Stehen wir nun tatsächlich vor dem Wendepunkt vor der wirtschaftlichen Erholung oder steht uns die eigentliche Insolvenzwelle noch bevor?
Patrik-Ludwig Hantzsch: Eine echte und vor allem nachhaltige Erholung können wir nicht erkennen, nicht zuletzt wegen des neuen „leichten Lockdown“. Im Frühjahr gab es tatsächlich noch einen kleinen wirtschaftlichen Aufschwung: „Hervorragende Zuwächse“ haben Regierung und führende Ökonomen attestiert. Doch für eine Volkswirtschaft in tiefer Rezession ist jede kleine Erholung natürlich ein großartiger, aber relativer Zuwachs. Und so ließen ganz normale Nachholeffekte bei sommerlichen Temperaturen das eisige Frühjahr wieder verblassen. Doch spätestens mit dem herbstlichen Wetterumschwung ist diese Illusion dahin, die strukturelle Not der Unternehmen wird wieder sichtbar. Um es deutlich zu sagen: Der Lockdown im Herbst wird sich fatal auswirken. Denn spätestens seit dem März ist klar, wie weitreichende Kontaktverbote auf die Umsatz- und Ertragslage der Unternehmen wirken. Vor allem Restaurantbesitzer, Händler, Hotellies, Gastwirte, Vermieter, Barbetreiber, Künstler, Veranstalter und Reisebüros müssen sich warm anziehen. Das von vielen renommierten und namhaften Ökonomen prophezeite V-Szenario gibt es nicht mehr. Es war auch nie wahrscheinlich. Ich sprach vor einigen Monaten bei der Bewertung der enormen Hilfsmaßnahmen von „einer Wette auf die Zukunft mit ungewissem Ausgang“. Gesamtwirtschaftlich betrachtet ist diese Wette –zumindest für dieses Jahr- verloren.
Thorsten Klindworth: Viele kleine und mittelständische Unternehmen konnten sich in den vergangenen Wachstumsjahren einen soliden Grundstock, also eine Art „Finanzpuffer“ für mögliche Krisenszenarien aufbauen – dieser scheint bei vielen nun aufgezehrt zu werden… Eigenkapital und liquide Mittel werden weniger. Wie bewerten Sie die aktuelle Situation am Finanzmarkt?
Patrik-Ludwig Hantzsch: Hier gilt ein klassisches „Es kommt darauf an…“. Momentan gibt es noch viel Liquidität im Markt. Neben den vielen staatlichen Hilfsmaßnahmen erfüllen auch die Banken ihre Aufgabe und versorgen die Unternehmen mit Krediten. Anders als in der Weltfinanzkrise 2008/09 verfügen sie noch über hohe Kapitalpuffer. Doch im Angesicht einer zu erwartenden Insolvenzwelle in 2021 und den damit verbundenen Kreditausfällen, wird die Kreditvergabe der Banken restriktiver. Dringend notwendige Investitionen werden aufgrund der Unsicherheit weiter verschoben und erschwert. Deswegen wird eine proaktive Finanzkommunikation für die Unternehmen zukünftig noch wichtiger, damit Kreditgeber sich schnell und ausführlich über eine Risikolage informieren können. Auch andere Finanzierungsmodelle sollten Unternehmen in Betracht ziehen und sich auf eine lange Krisen-Phase einstellen.
Thorsten Klindworth: Stichwort Zombies: Wie gefährlich sind diese Unternehmen wirklich?
Patrik-Ludwig Hantzsch: Was bei dem bisherigen Vorgehen droht, ist eine weitere Zombiefizierung der Unternehmenslandschaft. Die liegt vor, wenn Firmen ihre Zinsverpflichtungen längerfristig nicht mehr durch das operative Ergebnis decken können. Die Untoten der Wirtschaft sind unrentable und überschuldete Unternehmen, die sich durch die lockere Geld- und Zinspolitik der vergangenen Jahre refinanzieren und so überleben. Diese Zombies sind in mehrfacher Sicht problematisch. Je länger sie am Markt agieren können, desto höher sind die möglichen Verluste, die sie bei anderen Marktteilnehmern verursachen. Sie sind erwiesenermaßen weniger produktiv und innovativ. Durch ihre Präsenz in ihrer jeweiligen Branche versperren sie Start-ups und leistungsfähigen Unternehmen den Weg. Weiterentwicklungen werden verhindert, Kapital gebunden, Fachpersonal in maroden Strukturen gehalten. Auch diese Unternehmen profitieren von den erweiterten staatlichen Maßnahmen und richten derweil weiteren volkswirtschaftlichen Schaden an. Wird eine geordnete Marktbereinigung weiter verhindert, fehlt es an Kraft, um in der Post-Corona-Zeit wettbewerbsfähig zu bleiben.
Thorsten Klindworth: Sie sprechen in vielen Bereichen von „dem größten wirtschaftlichen Einbruch seit dem 2. Weltkrieg“. Wie können sich KMU, trotz bevorstehender Pleitewellen, auf die kommenden Wochen und Monate vorbereiten? Gibt es eine Art „Rettungsring“ abseits von staatlichen Förderungen?
Patrik-Ludwig Hantzsch: Was jetzt vor allem hilft, ist unternehmerische Eigenverantwortung. Das bedeutet, sich nicht alleine auf staatliche Maßnahmen zu verlassen, sondern jetzt die Themen „Finanzierung“, „Eigenkapitalstärkung“ und „Weiterentwicklung des eigenen Geschäftsmodells“ in den Fokus zu nehmen. Wir halten es für nötig, sich schnellstmöglich wieder dem Wettbewerb unter realen Bedingungen zu stellen, nicht überlebensfähige Geschäftsmodelle auszusortieren und die im Kern Gesunden gezielt, etwa durch Corona-Bürgschaften, zu fördern. Hilfreich kann auch der sogenannte Präventive Restrukturierungsrahmen sein. Die präventive Sanierung setzt weit vor der Insolvenzreife an. Ziel ist es, daß ein Unternehmen in einem frühen Krisenstadium Schritte der Sanierung geht und damit den Insolvenzfall verhindern kann. Modular angewandt können Gläubiger und Unternehmen frühzeitig ausloten, wie eine Lösung aussehen könnte. Ein Sanierungsverfahren außerhalb der Insolvenz kann so auch helfen, Unternehmen zielgerichtet und dauerhaft für die Zeit nach Corona fit zu machen.
Thorsten Klindworth: Für von einem Insolvenzszenario betroffene Unternehmen empfehlen wir auch die Prüfung von Factoring in der Insolvenz, Oftmals ergeben sich mit einer auf die jeweilige Unternehmenssituation angepassten Finanzierung und verschiedenen Finanzierungsbausteinen neue Möglichkeiten, das angeschlagene Unternehmen wieder auf Kurs zu bringen.
Thorsten Klindworth: Wagen wir einen Blick in die Zukunft: Welche Entwicklungen prognostizieren Sie im deutschen Mittelstand für das Jahr 2021? Gibt es Licht am Ende des Tunnels?
Patrik-Ludwig Hantzsch: Die aktuelle Krise im Herbst 2020 ist –so dramatisch sie für den Einzelnen auch sein mag- volkswirtschaftlich noch kein Totalschaden. Die Unsummen an staatlichen Hilfsgeldern und die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht haben viele unmittelbare Effekte in das kommende (Wahl-) Jahr verschoben. Ein Hoffnungsschimmer sind die aktuellen Ankündigungen zu einem wirksamen Impfstoff. Das gibt Hoffnung auf eine Zukunft, in der die Auswirkungen des Virus beherrschbar sind und wir nicht alle zwei Monate in einen neuen Lockdown müssen. Der Weg zur neuen Normalität wird aber lang sein. Unternehmer sollten deswegen jetzt alles Nötige tun, um sich für eine Zukunft auch ohne Corona fit zu machen.
Thorsten Klindworth: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Hantzsch!
Patrik-Ludwig Hantzsch ist Leiter der Wirtschaftsforschung und Pressesprecher beim Verband der Vereine Creditreform in Neuss. Nach dem Studium an der Philipps Universität Marburg war er zunächst in der Agrar- und Handelsbranche tätig. Seit 2019 arbeitet er beim Verband der Vereine Creditreform. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Wirtschaftsforschung bei Untersuchungen zur Konjunkturentwicklung, insbesondere dem Insolvenzgeschehen, den Neugründungen in Deutschland und Europa sowie zu Fragen der Finanzierung und Entwicklung mittelständischer Unternehmen.